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Eine hohe Bevölkerungsdichte, viel Mobilität, häufige Kontakte mit anderen – in komplexen vernetzten Strukturen haben Krankheitserreger bekanntermaßen ein leichtes Spiel. Das gilt genauso im Ameisenbau. Nur ein einzelnes infiziertes Individuum kann zur Bedrohung für die ganze Gesellschaft werden. Soziale, also staatenbildende Insekten haben dafür Strategien entwickelt, die frappant jenen Maßnahmen ähneln, mit denen die coronagebeutelten Menschenstaaten derzeit leben müssen. Social Distancing, Isolation, extreme Hygiene, eine Art Immunsystem-Test – all das wird auch bei so manchen Tiergemeinschaften im Fall einer Epidemie in Gang gesetzt. Verhaltensmuster "Wenn es zu einem Krankheitsausbruch kommt, bei dem der Erreger direkt von einem Wirt auf den anderen überspringt, gibt es drei Möglichkeiten, das zu verhindern, ganz egal, ob es sich um soziale Tiere wie Wölfe und Insekten oder um Menschen handelt", sagt die Insektenforscherin Sylvia Cremer. "Erstens, dass die Kontakte zwischen den Individuen verringert werden. Zweitens, dass die Anzahl der Pathogene gesenkt wird, was vor allem durch Hygiene gelingt. Und drittens, dass genug Individuen immun beziehungsweise geimpft sind, sodass sich der Erreger nicht mehr verbreiten kann." Mit epidemiologischen Modellen und Kurven ist Cremer längst vertraut – auch wenn es sich dabei um jene von Ameisenkolonien handelt. Seit zehn Jahren erforscht sie mit ihrer Gruppe am Institute of Science and Technology (IST) Austria in Klosterneuburg, wie Ameisen Krankheiten abwehren und wie der Staat kollektiv geschützt wird durch das Sozialverhalten eines jedes einzelnen Tieres. Epidemie-Simulationen Bei der Analyse der Mechanismen von Krankheitsausbreitung und -eindämmung stützt sich die Biologin und Spezialistin für evolutionäre Immunologie nicht nur auf mathematische Theorien, sondern auch auf experimentelle Daten. In Zusammenarbeit mit Forscherinnen und Forschern der Universität Lausanne haben Cremer und ihr Team 2018 in einer im Fachblatt "Science" publizierten Studie erstmals gezeigt, wie die Organisation der Kolonie die Krankheitsausbreitung beeinflusst. Um das Netzwerk von sozialen Kontakten zu vermessen und Bewegungsprofile zu erstellen, wurde zunächst über 4000 Gartenameisen je eine Plakette mit einem QR-Barcode verpasst. Im Labor wurde dann in den einzelnen etwa 150 Ameisen starken Kolonien Epidemien simuliert. Dazu wurden zehn Futtersammlerinnen Pilzsporen ausgesetzt, die sich durch Kontakt leicht verbreiten. "Auch in der Natur tragen hauptsächlich die Sammlerinnen Pathogene ins Nest", sagt Cremer. "Schon die Aufteilung in Taskforces, die jeweils eigene Aufgaben haben, wirkt prophylaktisch." Sobald die Pilzsporen erkannt wurden, begannen die Untergruppen weniger mit anderen Gruppen zu interagieren. Auch die Kontaktdauer nahm ab. "Sogar Tiere, die gar nicht mit dem Erreger in Berührung gekommen waren, änderten ihr Verhalten", sagt Cremer. Krankheitsausbreitung in Echtzeit Per PCR-Test wurde festgestellt, wie viele Pilzsporen jede Ameise nach 24 Stunden Sozialkontakt auf ihrem Körper trug. Durch die veränderten Kontaktmuster konnte die Übertragung im Vergleich zum mathematischen Basismodell eingedämmt werden: Nur wenige Tiere wurden krank, die meisten davon bloß in geringem Ausmaß. Ein "Überlebensexperiment" belegte, dass durch die Sporenbelastung der Ameisen am Tag eins der Epidemie ihre Krankheitsentwicklung und somit ihr Überleben neun Tage nach der Ansteckung vorausgesagt werden konnte. Die Königin blieb übrigens immer geschützt. "Momentan können wir die Corona-Epidemie und die Auswirkungen von Social-Distancing-Maßnahmen immer nur im Nachhinein verfolgen", sagt Cremer. "Die experimentelle Grundlagenforschung mit Ameisen kann helfen, epidemiologische Prozesse zumindest in Insektenkolonien in Echtzeit zu untersuchen."