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4. Ordner oder die Psychiatrie Bei ihrem zweiten Besuch liegen sie beide gemütlich auf seinem Bett, als er sagt „Anna, möchtest du sie sehen“ „Wen sehen“ „Na, warum ich immer sage, ich hab’s schriftlich von mehreren Gutachtern. Dass ich anders bin, als andere Männer und direkt von Melmac komme. Ich bin ein Melmacianer, so eine Art Marsmännchen“, lacht Chris. „Dann zeig mir doch den Beweis, dass Du wirklich ein Außerirdischer bist“ sagt Anna so locker wie möglich. Sie fürchtet sich ein wenig vor dem, was Chris jetzt auspacken könnte. Vielleicht ist es besser, sie weiß nicht, was in den Papieren steht, wie krank er wirklich ist und was schon alles schiefgelaufen ist in seinem Leben. Hatte er eine unheilbare Störung Ist er gewalttätig Sie müsste ihn sofort verlassen, wenn sie das erfährt, sie hätte keine Wahl. Nein, sie will nicht lesen, wie anders er wirklich ist, ihr MelmacBewohner. Doch Tissy steht schon auf einem wackeligen Hocker vor seinem einzigen Schrank und öffnet eine Tür oberhalb des eingebauten Besenschrankes. Dahinter kommen einige sauber beschriftete Ordner zum Vorschein. Sein Ordnungssinn überrascht Anna immer wieder. Egal, ob in der Küche oder im Bad, überall ist es blitzsauber. Alle Dinge folgen seiner Ordnung Gummibänder liegen in einem kleinen durchsichtigen Plastikbeutel, Messer sind nach Größe sortiert, und das Notnähzeug wird in einem edlen Ledermäppchen verwahrt. Wenn ich in der nächsten Zeit hier etwas suche, würde ich es schnell finden, denn alles hat seinen Platz bei ihm, denkt Anna. Doch wehe, etwas ist nicht an Ort und Stelle Das bringt ihn und seinen ganzen Tag durcheinander, auch das wird sie erleben. Unter seinem Bett lagern verschlossene Kisten mit Bettwäsche und Handtüchern. Neben dem Bett stehen Holztruhen und Schachteln. Gewürzdosen sind wie kleine Soldaten aufgereiht nach Alphabet sortiert. In seiner winzigen Wohnung nutzt Chris auch den letzten Quadratzentimeter, bis ins letzte Detail durchdacht. Der Boden ist so sauber, dass man davon essen könnte, und das Bett wird jede Woche frisch bezogen. An Tagen, an denen er nicht trinkt, putzt Tissy seine Wohnung auf den Knien, Zentimeter für Zentimeter. Wenn er jedoch trinkt, braucht er danach einen ganzen Tag, um seine Ordnung wiederherzustellen. Jetzt wirft er Anna einen Ordner auf das Bett. Sie schlägt die erste Seite auf. Zwischen diesen Aktendeckeln werden mehr als zwei Jahrzehnte seines Seelenlebens aufbewahrt. Die ersten Seiten sind psychiatrische Gutachten, unterzeichnet von verschiedenen Ärzten. Sie liest seine Diagnosen der vielen Klinikaufenthalte. Wie eine Aufzählung schwerer Störungen aus einem psychiatrischen Fachbuch kommen ihr die Begriffe vor Schwere Angst und Panikattacken, schwere depressive Episoden, Alkoholmissbrauch, BarbituratAbhängigkeit, massive Schlafstörungen, dissoziative Störung, mehrere Suizidversuche und ein posttraumatisches Belastungssyndrom. Ein Attest bescheinigt ihm seit 1994 seine Arbeitsunfähigkeit für den Rest seines Lebens. Anna erfährt auch, dass Tissy während seiner Klinikaufenthalte nie therapiewillig war. Er verweigerte Gespräche mit Psychologen und er lehnte Psychopharmaka ab. Einige Male lieferte er sich in Krisen selbst ein, doch er wurde nie zwangsweise eingeliefert. Dafür sorgte er, denn er wollte stets gehen können, wann er wollte. Trotz hoher Promillewerte, die bei anderen Trinkern zur Bewusstlosigkeit führen konnten, schaffte Chris es, bei seinen Selbsteinweisungen noch logisch zu antworten. Ein Verzicht auf Alkohol war in der Klinik kein Problem, doch nach der Selbstentlassung kaufte er sich am nächsten Büdchen sofort Nachschub. Anna fragt „Tissy, hier steht, dass du nicht therapiewillig warst. Ist das so“ Sofort verliert er die Kontrolle Er schreit, überschüttet Anna mit Vorwürfen und läuft erregt im Zimmer umher. „Du blöde Schlampe Was willst du eigentlich von mir Halt die Fresse und misch dich nicht ein in Dinge, die du nicht verstehst“ Erstarrt, mit ängstlichem Herzklopfen und entsetzt über diese gewaltige Wut, die so plötzlich aus ihm herausbrach, sitzt Anna da, während Tissy kopflos durch das Zimmer tobt. Instinktiv steht sie langsam auf, legt den Ordner weg und packt den tobenden Mann sanft an den Schultern. „Tissy, komm, lehn dich an mich “, sagt sie immer wieder, bis er sich entspannt. Seine Schultern sacken nach vorne, und tatsächlich lehnt er irgendwann erschöpft seinen Kopf auf ihre Schulter. Sie führt ihn zur Bettkante und dort sitzen sie jetzt. Sprachlos und hilflos. Endlich flüstert Tissy „Anna, ich konnte doch keinem Psychoheini etwas aus meinem verkackten Leben erzählen Sie hätten es nicht verstanden. Ich hasse diese Psychobande, die glaubt, in Menschenseelen unverfroren herumstochern zu dürfen. Diese feinen Seelenklempner aus dem Westen Haben die gesehen, wie ein Freund neben ihnen von Hunden zerfleischt wurde Oder wie es ist, mit einem Gummiknüppel geschlagen zu werden Ich war ein Kind, Anna Ein Kind Ach, lass mich einfach jetzt in Ruhe“ Dann weint er laut. Anna bleibt still neben ihm sitzen, bis er leer geweint ist. Später kocht sie für beide, und sie essen schweigend im Bett. Tissy besteht darauf, saubere Geschirrtücher unter die Teller zu legen. Wenn Anna das vergisst, holt er sie selbst und breitet sie aus. Dann lächelt er endlich wieder und sagt „Guten Appetit, Mausliches“ Als er wenig später aus Erschöpfung einschläft, eingerollt wie ein Embryo, berührt Anna sein friedliches Gesicht. Jedes Mal, wenn sie ihn so sieht, denkt sie Engelsgesicht.