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2. Planet Melmac oder ich bin anders Sonntags nachmittags, im August, wischt Anna ihre nassen Spülhände flüchtig an ihrer Jeanshose ab und greift nach ihrem Telefon. »Anna Berghoff», fragt sie in den Hörer, weil ihr im Display eine unbekannte Nummer angezeigt wird. »Tschulligung, Annalein Mir geht’s so mies. Ich will jetzt mit dir reden. Du musst jetzt mit mir reden, du musst es einfach.« Anna hört eine Männerstimme, die sie nicht zuordnen kann. Sie hat keine Idee, wer da offensichtlich betrunken lallend am anderen Ende spricht. Kurz überlegt sie. »Ich weiß nicht, wer Du bist, aber es ist gerade sehr ungünstig. Ruf mich später noch mal an, wenn Du nüchtern bist.« Sie drückt sofort die beenden Taste und legt ihr Telefon auf die sonnenwarme Fensterbank. Nachdenklich greift sie nach dem schmutzigen Wok, an dem Sojasoße und Gemüsereste klebt. Sie spült die verklebten Reste weg und sieht in den Garten auf die Birke, deren Äste sich im leichten Sommerwind bewegen. Nein, es fällt ihr nicht ein, welcher Mann sie da gerade angerufen hat. Ärgerlich, dass ihr die Stimme dennoch vertraut vorkam. „Egal“, denkt sie, „er wird sich wieder melden, wenn es so sein soll“. Momentan ist sie gar nicht wild auf einen weiteren Mann in ihrem Leben. In den letzten Jahren lernte Anna fast ausschließlich Männer kennen, die ihr Leben und sich nicht im Griff hatten. Ihr eigenes Leben ist anstrengend genug und wie eine Jongleurin hält sie täglich mindestens fünf Bälle gleichzeitig in der Luft, bemüht, dass ihr kein einziger auf den Boden fällt. Das gelingt ihr nicht immer. Ihre Bälle und ihr Leben, sie sind jederzeit sturzgefährdet. Warum ruft er nicht noch einmal an, dieser Mann Sie hat kein Problem damit, Männer kennenzulernen, wenn sie will. Sie hat eher das Problem, dass Männer nach dem Ende einer Liebe an ihr kleben, wie ausgekaute Kaugummis, und Anna sie lange nicht mehr loswird. Viel Zeit hat sie damit verbracht, darüber nachzudenken, warum sie auf sehr unterschiedliche Männer so eine nachhaltige Wirkung hat. »Ich glaube, ich bin ein Versprechen», vermutet sie, »Das Versprechen, nicht schon alt zu sein und dass es noch viel zu entdecken und lachen gibt. Das Versprechen, ihr meist dahin schleichendes Leben zu einer aufregenden Fahrt über das Meer zu machen.« Der letzte Mann, der sich vor einigen Monaten in Anna verliebte, Torben, war einer der Männer, deren Leben durch Karriere und eine lahme Ehe dringend Hitze und Licht nötig hatte. So wie die Kerze ein Streichholz braucht, um zu brennen, brauchte er Anna Sie war sein Streichholz. Torben versuchte, sie in einer Art feindlicher Übernahme zu seinem Eigentum zu machen. Obwohl er in einer fast drei Jahrzehnte dauernden Ehe festhing, warb er so druckvoll um Anna, dass sie in Panik geriet, vollkommen zum Subjekt seiner Begierde zu werden und ihre Freiheit zu verlieren. Sie machte es wie der Entfesselungskünstler Houdini und wand sich aus seiner unerwünschten Umarmung mit allen körperlichen und sprachlichen Verrenkungen, zu denen sie fähig war. Dabei versuchte sie, seine Gefühle nicht zu verletzen, das war ihr wichtig. Doch auch dieser Versuch Torben loszuwerden, war wenig erfolgreich. Monatelang belästigte er Anna mit Mails und Einladungen. Er gab erst dann auf, nachdem Anna ihm aus Hilflosigkeit entnervt androhte, seine Frau zu informieren. Er ließ ihr keine Wahl. Anna greift nach einer weißen Auflaufform und schichtet Glasnudeln und ein MangoZwiebelGemüse mit einer scharfen Soße übereinander. Es riecht köstlich Morgen hat ihre Tochter Geburtstag und sie hat ihr ein vegetarisches Essen und einen Besuch versprochen, auf den sich beide freuen. Den Anrufer von heute Nachmittag kann sie trotz der vielen Tätigkeiten in der Küche nicht vergessen. Er musste sie kennen und offenbar versprach er sich eine Art Hilfe von ihr. Ob es Torben war, der sie heute angerufen hatte Er trank viel, allerdings nicht tagsüber. Verschiedene Male hatte Torben Anna nachts angerufen, wenn er sich einsam fühlte, während seine Frau im oberen Stockwerk schlief. Anna war immer noch froh, dass sie mit Torben niemals über einen Kuss hinausgekommen war. Er war verheiratet. Punkt und Schluss. Plötzlich weiß sie, wer sie heute Nachmittag betrunken angerufen hat Es war Tissy Er musste der Anrufer gewesen sein. Ihre bisher einzige InternetBekanntschaft, mit der sie seit vielen Wochen keinen Kontakt mehr hatte, weil er und sie sich ausdauernd am Telefon stritten. Weil Tissy schwierig war. Weil ihr Kontakt von Anfang an immer wieder schnell problematisch wurde. Seine Telefonnummern hatte Anna vor langer Zeit wütend gelöscht. Bei ihrem ersten Gespräch teilte er ihr mit »Ich bin vom Planet Melmac. Anna wisse schon, da wohne auch ALF, der gerne Katzen fresse. Er sei der Bruder von ALF. Auch er würde gerne Katzen fressen wie sein Kumpel Alf und er sei überhaupt ganz anders als andere Männer. Der MelmacPlanet sei auch viel zu weit für sie. Da brauchst Du ein Raumschiff, Babe, um mich zu finden Ich brauche eine Rhonda, die hier bei mir ist. Ich bin anders, Annalein. Ich bin Heavy Metal, verstehst Du Das ist was anderes, als Du bist. Überhaupt Stell dir vor, wir verlieben uns, was dann Ich kann nicht fahren. Ich kann kaum aus dem Haus. Wie soll das gehen Ich bin krank. Ich hab’s mehrfach schriftlich. Ich ticke nicht richtig, ich bin ein Chaoti. Lass das mal stecken mit uns, Anna, wir passen nicht, Babe. Obwohl ich dich total süß finde auf den Fotos. Ja. Fuck. Und jetzt Es wäre besser, Anna hätte sich gerade nicht an Tissy erinnert. An seine Stimme, sein Lachen und seine merkwürdige Ausdrucksweise. Am Telefon nannte er sie oft sein Mausiges. Mausliches. Grausliches. Er liebte diese Sprachspielereien und sie fand es damals sehr charmant, etwas Mausliches, Grausliches für ihn zu sein Er rief oft Fuck Au, wenn er beim Telefonieren seine Knochen in seiner winzigen Wohnung anstieß. Anna kannte seine kleine Wohnung nur von Bildern, die er ihr schickte. Seine Stimme klang warm wie ein Mantel, in den sie sich einhüllen konnte. Wenn er in Redelaune war, dann legte Anna nachts das Telefon auf ihr Kissen, stellte den Lautsprecher an und wickelte sich stundenlang in diesen Stimmenmantel, der sie unterhielt und wärmte. Manchmal schlief sie darüber ein und merkte erst am nächsten Morgen, dass das Handy noch immer neben ihr lag. Leer. Tissy amüsierte sie oft. Lange hatte sie nicht mehr so viel gelacht, wie mit ihm am Telefon. Manchmal imitierte er mit seiner Stimme verschiedene Rollen und sprach mal mit hoher, mal mit seiner tiefen, warmen Stimme. Er hatte schauspielerisches und dramaturgisches Talent. Er hatte eine Begabung für das Drama. Das große Drama Seine Erzählungen waren blutige Schlachtfelder und Anna bemühte sich oft, nicht zu genau hinzuhören auf den Sinn seiner Worte. Doch sie mochte sein Gefühl für Sprache, Rhythmus und Spannung. Sehr oft liebte sie das, doch manchmal hätte sie sich fast übergeben, weil seine Geschichten so schrecklich waren. Diese Geschichten aus seinem Leben, in denen ständig Menschen starben, Kinder litten und das Chaos ihn unter sich begrub. Oft machte er Anna rasend wütend mit dem, was er sagte, und dann stritten sie wie zwei schnaubende Stiere im Stierkampf, denen die Picadores schon mehrere Lanzen in den Nacken gebohrt hatten. Schwächender Blutverlust folgte und sie drückte oft erschöpft die beenden Taste ihres Telefons. Vorher schrie sie in den Hörer, dass er jetzt verschwinden soll aus ihrem Leben und sie auf so einen kranken Mist keinen Bock habe Ihr letzter Streit vor vielen Wochen am Telefon war dann der Endpunkt ihres Kontakts. Immer klarer wurde ihr, wie anstrengend und krank Tissy ist. Auf so einen verdammt engstirnigen, kranken Egozentriker wie ihn konnte und wollte sie sich nicht einlassen. „Er wird mich all meine Energie, mein Geld und Nerven kosten“ dachte sie damals. Da Anna sich gut kannte, ahnte sie, dass er intuitiv ihre wichtigsten Gefühle ansprach Ihre Empathie. Leidende Wesen, ob Mensch oder Tier, berührten Anna immer sehr. Wie Menschen in Beziehungen ticken, wie ihre Seele und ihr Geist funktioniert, auch das interessierte sie brennend. Wenn sie ehrlich zu sich war und das kam vor, dann war sie gerade an den Menschen interessiert, die brüchige Biografien, krumme Lebenswege und viel Drama erlebt haben. Lebendig und fühlend wollte sie sein, in jeder Minute ihres Lebens. Doch sie musste auch ihre fünf Bälle ständig jonglierend in der Luft halten und sie spürte Mit einem Tissy würde sie das nicht schaffen. Mit einem Tissy würde sie alles verlieren ihren Kopf, ihr Herz und die Kontrolle über ihr Leben. Gefahr Anna schickte Tissy mit Herzschmerz in die digitale Wüste und dachte, es sei für immer. Heute allerdings schläft sie mit einigen Gedanken an diesen schwierigen Tissy ein, der ordentlich eins an der Rassel hat, schriftlich bestätigt von mehreren Gutachtern. Anna umarmt ihr Kissen und denkt »Morgen ist auch noch ein Tag. Dann sehe ich weiter« Mit diesen Gedanken fühlt Anna sich mich Scarlet O’Hara verbunden, die auch so ein paar Probleme mit ihrem Rhett Butler hatte.