Read Aloud the Text Content
This audio was created by Woord's Text to Speech service by content creators from all around the world.
Text Content or SSML code:
1. Anfang oder das Ende zuerst Anna ist da. Für zwanzig Euro hat der Taxifahrer sie in ihre Erinnerungen gefahren. Anna zahlt, bedankt sich und betritt zögernd das Wohn und Geschäftshaus in der Innenstadt. Sie nennt es Fort Knox, so gesichert sind die Wohnungen in diesem Hochhaus. Jetzt steht sie vor dem Aufzug. Er lässt sich nur durch einen Schlüssel zu einer Fahrt in den fünften Stock bewegen. Im Aufzug steckt Anna den Schlüssel ins Schloss und drückt den silbernen Knopf zu den Privatwohnungen, fünfte Etage. Eine Glastür, ein spärlich beleuchteter Flurtunnel, eine weitere Durchgangstür und endlich steht sie vor seiner Wohnung. Heute ist die braune Holztür abgesperrt mit rotweißen Flatterbändern, die an den Zargen festgeklebt sind. Polizeiliche Untersuchung Entfernen der Sicherung verboten, verkündet die fette schwarze Schrift auf einem weißen Blatt. Sie reißt das rotweiße Band nur an der linken Zarge ab und öffnet mit seinem Wohnungsschlüssel. Jetzt steht Anna in dem kleinen Vorflur. Er riecht nach kaltem Rauch, Schnaps und Blut. Er wohnte in diesem Zimmer, das nur wenige Quadratmeter groß ist. Sie sieht schon von der Tür aus, dass die breiten Fenster zur Straße zum ersten Mal geschlossen sind. Sie waren immer geöffnet, seine Fenster. Im Sommer, im Herbst und selbst dann, wenn es draußen frostig war, denn im Winter drehte er bei geöffneten Fenstern seine Heizung auf höchste Stufe. Er wäre sonst in seinem eigenen Qualm erstickt. Er nannte sich Tissy oder Chris. Drei, vier Schritte geht Anna jetzt durch den Flur. Rechts die Garderobenhaken, an denen seine schwarze Bikerjacke mit vielen Pins hängt. Direkt daneben die Holztür zu dem fensterlosen Bad. Links steht die RattanKommode mit verschiedenen Schubladen, in denen er ordentlich seine geliebten Caps und Kleinzeug aufbewahrt. Dort legte er seinen Schlüssel ab, wenn er nach Hause kam. Daneben steht der zierliche Kleiderschrank, der seine wenigen Kleidungsstücke hütet. Tissy hatte die Angewohnheit, immer dasselbe Shirt anzuziehen und es jeden zweiten Tag zu waschen, dann kräftig auszuwringen und nass anzuziehen, wenn es im Sommer sehr heiß war in seiner Bude. Dabei lagen zehn verschiedene Shirts in seinem Schrank, doch Tissy liebte immer nur ein Shirt und trug es, bis es fadenscheinig und löchrig war. Er hielt an seinen Shirts fest wie an einem alten Versprechen, das nur er kennt. Oft hatte Anna im Bett gesessen und seine Sachen geflickt und Löcher in seinen Lieblingsteilen gestopft, so gut sie konnte. Sie konnte es nie gut, doch er fand es großartig, dass sie das überhaupt für ihn tat. In diesen Momenten nannte er sie Lissy Fröhlich, so hieß seine Oma, die einzige Frau, die er liebte. Dann drückte er von Zeit zu Zeit den Einschaltknopf der „Blubber“ in seiner kleinen Bude, Kaffeeduft zog durch das Zimmer und er sagte „Lissy Fröhlich, wenn du hier so sitzt und meine Sachen in Ordnung bringst, dann habe ich ein Heim. Du bist mein Zuhause, Mausiges.“ Als Chris sehr klein war, konnte er seinen Vornamen lange nicht aussprechen. Er nannte sich damals selbst Tiss. Seine Oma Lissy verwandelte ihn in einen Tissy. So war es bis heute geblieben Er nannte sich mal Chris, mal Tissy. So, wie Anna ihn je nach Laune nannte. Nur wenige Schritte und Anna steht vor dem Bett, in dem sich Tissys eingeschränktes, trauriges, einsames Leben seit fast zwanzig Jahren vollzog. Es gibt nicht einmal einen Tisch in diesem Raum. Nur das ein Meter sechzig mal zwei Meter große Kiefernholzbett und eine winzige Kochnische mit zwei elektrischen Platten. Das fensterloses Bad mit den himmelblauen achtziger Jahre Fliesen, mit Schwarzschimmel auf und in den Silikonfugen und eine jahrzehntealte Badewanne. An der Wand klebt ein Ozzy Osbourne Plakat, und er sah Anna beim Duschen jedes Mal grinsend zu. Eingeschäumt unter der Dusche und mit einem Auge zu ihm blinzelnd, hatte sie für Ozzy oft das Heavy Metal Handzeichen gemacht. Gegessen wurde im Bett. Geschrieben, geliebt und gespielt wurde im Bett. Geschlafen, wenn Chris denn schlafen konnte. Seit vielen Jahren gelang es ihm nicht, allein einzuschlafen. Niemals ohne sein starkes Schlafmittel. Doch wenn sie bei ihm war, dann und wann, nickte er einfach ein, wenn die Erschöpfung ihn überwältigte. Für eine Stunde oder kürzer fand er Ruhe und war erstaunt darüber. Seit vielen Jahren lebte Tissy sein Einschlafritual Er wartete ab, bis er gegen Mitternacht mehrfach gähnen musste, dann schluckte er seine Schlaftablette. Eine halbe Stunde später schlief er zuverlässig ein, während sein Fernseher flackerte. Nachts plagten ihn schwere Träume, durch die er zwischen drei und vier Uhr unruhig aufschreckte. Dann saß er schweißnass im Bett, und schob sich sofort eine filterlose Gauloises brunes zwischen die Lippen. Das war wie ein Automatismus, der bei ihm ablief. Benebelt von der starken Tablette, fiel ihm oft die glühende Kippe einfach aus den Fingern, in das Bett oder auf den kleinen Bambusteppich, der auf dem Boden neben seiner Schlafseite lag. Er wurde regelmäßig von ihm ausgetauscht, denn er kannte sich gut und hatte immer zwei dieser Teppiche im Vorrat. Oder seine Kippe fiel auf die Matratze und brannte sich durch das Laken und den wasserdichten Schonbezug. Unordnung, Dreck und Brandflecken hasste er, wie er die Stasi gehasst hatte. Immer fürchtete sich Anna, nachts mit ihm in seinem Bett zu verbrennen. Darum schlief sie halb wach, mit offenen Ohren einen Katzenschlaf. Sie passte auf, wenn er sich halb betäubt eine Zigarette anzündete. Alle paar Sekunden stupste sie ihn dann, wenn er nachts rauchte, in den Rücken und murmelte „TissySchatz … deine Kippe … aufpassen“ „Ja. Schon gut Mausiges“, murmelte er dann mal ärgerlich, mal freundlich, und so wusste sie, dass er immerhin ansprechbar war. Sie schlief wieder ein, wenn sie merkte, dass er die Gauloises im Aschenbecher ausdrückte. Ihn zu bitten, das Rauchen nachts sein zu lassen, weil sie schrecklich husten musste von dem nächtlichen Qualm, das wäre so gewesen, als würde sie ihn bitten, mit dem Saufen aufzuhören. Also ließ Anna das und hielt es aus. So, wie sie fast alles Unabänderliche mit Tissy aushielt. Das Unabänderliche steht jetzt vor ihr und sie steht vor ihm, seinem leeren, blutbefleckten Bett. Anna würgt, hält sich die Hand vor den Mund und taumelt in das kleine himmelblaue Bad. Sie erbricht sich mehrfach in die saubere Toilettenschüssel. Schweißnass und zitternd am ganzen Körper hockt sie gegen den Wannenrand gelehnt auf dem weißen Fliesenboden, die Beine an den Unterleib gezogen. Jetzt wünscht sie sich das, was Chris sich seit Jahren gewünscht hat. Sie wünscht sich, nicht mehr da zu sein.